Moin,
da die Frage von Frank66 im 1860 Thread kam, ob man die Analysen nicht auch kürzer gestalten könnte?! Ich verstehe, dass es einigen zu ausführlich bzw. vielleicht zu viel Theorie ist. Ich neige dazu, bei solchen Arbeiten zu "detailliert" zu schreiben. Das kann manchmal gut sein, kann aber auch das Interesse sinken lassen. Mir macht es dennoch Spaß und gerade an diesem 1:3 gegen Jena lässt sich so einiges erklären, wodurch sich ein stimmiges Gesamtbild ergibt. Es lohnt sich, durch den Text durchzukämpfen... hoffe ich
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#1 Die Einstellung der Spieler und der Einsatz im Spiel:
Um etwas über die Gegner zu erfahren, lese ich ebenfalls in anderen Fanforen mit. Verliert eine Mannschaft, fallen häufig Sätze wie: "Die Mannschaft hat nicht gekämpft.", "Die Mannschaft war zu arrogant." oder "Die Mannschaft hatte nicht die richtige Einstellung." Das ist mir zu einfach. Kampf, Leidenschaft und Einstellung sind zusammen ein wichtiger Faktor im Fußball, aber weder der einzige noch kann man ihn in den seltensten Fällen der gesamten Mannschaft absprechen. Ich denke, dass die negativen Aussagen nach solchen Spielen sowieso Ausdruck von etwas ganz anderem sind: Erstens lieben die User hier den FC Hansa Rostock und sie wünschen sich nichts sehnlicher als den Aufstieg bzw. eine erfolgreiche Saison. Die Kritik zeigt für mich nur, wie groß die Enttäuschung ist, dass es wieder mal nicht klappen könnte mit dem großen Ziel. Zweitens werden die genannten Tugenden meines Erachtens so vergöttert und gepredigt, weil sie genau das darstellen, was man selbst als Fan geben kann. Keiner von uns kann in das Spiel eingreifen, ein Tor schießen oder die Taktik verändern. Aber man kann anfeuern, singen, schreien, hüpfen, etc.. Und da man selbst so viel gibt, erwartet man das auch am meisten von den Spielern.
Im Vorfeld der Partie gab es ungünstige Aussagen. In der Sportpsychologie gibt es den Begriff der "Selbsterfüllenden Prophezeiung". Das heißt so viel wie: Ich treffe eine Vorhersage und diese bewirkt selbst ihre Erfüllung (Quelle Wikipedia). Wenn Spieler oder Trainer sagen: "Da will man nicht der Depp sein, der erste, der dort verliert." oder "Stimmt, da will keiner die erste Mannschaft sein. Es besteht die Gefahr, sich zu blamieren." (Quelle Bild Zeitung), dann ist das aus sportpsychologischer Sicht ungünstig.
Im Spiel selbst konnte ich zumindest bei den meisten Spielern sehen, dass es nicht am Willen lag: Neidhardt feuerte immer wieder an und rannte die Linie hoch und runter, Omladic suchte gerade in der ersten Halbzeit immer wieder per Dribbling den schmerzhaften Weg nach vorne und wurde dabei 5-mal abgeräumt, Bülow und Reinthaler gingen beherzt in jeden Defensivzweikampf und bestachen abermals durch gute Quoten im Luftzweikampf (siehe Statistik), Sonnenberg machte ein sehr gutes Spiel, usw..
#2 Das Spiel bis zur 69. Spielminute
Hansa im gewohnten Spielsystem mit Nartey auf der "Pepic Position" und Vollmann auf der "Nartey Position". Jena mit 3er-Kette, die durch 2 Außenverteidiger in der Defensive zu einer 5er-Kette wurde, einem 6er, zwei 10ern sowie zwei Stürmern - im Zentrum nach vorne und hinten sehr kompakt.
Hansa in den ersten 15 Minuten überlegen - deutliche Spielkontrolle, mehr Ballbesitz, mehrere Torchancen (4:0 Torschüsse). Danach konnte Jena das Spiel ausgeglichener gestalten und erste Nadelstiche in Form von Kontern oder Einzelaktionen setzen. Hansas Offensivspiel hingegen war nicht mehr durchschlagskräftig (15. bis 30. Minute - Torschüsse - Hansa 2, Jena 3). Kurz vor der Pause Hansa mit einer Druckphase und drei sehr schönen Angriffen: 39. Min - Kombination über Neidhardt, Opoku, Vollmann, Breier, Omladic - Torschuss gehalten; 40. Min - Kombination über Ahlschwede, Nartey, Opoku - Torschuss geblockt; 41. Min - Kombination über Reinthaler, Neidhardt, Bülow, Nartey, Sonnenberg, Nartey, Breier - Torschuss gehalten. Dann das 0:1 in Minute 43 - Nartey mit Ballverlust, Reinthaler mit Stellungsfehler, Donkor mit dem erfolgreichen Abschluss. Hansa trotz Überlegenheit zur Halbzeit im Rückstand (Torschüsse - Hansa 8, Jena 5).
In den ersten fünf Minuten der 2. Halbzeit unterliefen beiden Mannschaften sehr viele Fehler und das Spiel war sehr unruhig (Hansa - Pässe angekommen - 12/20 ≙ 60 %). Nach einer Ecke in Minute 52:37 setzte sich Hansa im letzten Drittel der Jenaer fest und Sonnenberg schloss nach der 4. Hereingabe zum 1:1 ab (Minute 53:14). Jena danach nicht geschockt sondern sehr präsent und mit druckvollen Gegenangriffen (Minute 54 bis 58). Hansa hielt dagegen und konnte drei gefährliche Fernschüsse verbuchen (56. Min - Nartey nach sehr gutem Dribbling neben das Tor; 59. Min - Neidhardt nach langer Passstafette mit Lattentreffer; 60. Min - Nartey 2. Ball nach einer Ecke gehalten). Fiel in der 1. Halbzeit das 0:1 ebenfalls nach einer "Dreifachchance" für Hansa, so wiederholte sich dies in Minute 61 und Jena führte 1:2 - Stellungs- bzw. taktischer Fehler Nartey. Hansa versuchte zwar nochmal alles, Torchancen wurden jedoch nicht herausgespielt. Das 1:3 in Minute 69 besiegelte die Niederlage - Stellungs- bzw. taktischer Fehler Nartey, Bülow.
Hansa zwar bis dahin über das gesamte Spiel hinweg mit einer leichten Überlegenheit (Torschüsse - Hansa 12, Jena 8), Jena aber mit mehr Glück in der entscheidenden Situation (Latte vs. Tor) sowie gnadenloser Effizienz (3 Torschüsse 2 Tore in Halbzeit 2 bis zur 69. Minute).
#3. Die Analyse
Manchmal lese ich in den Foren oder Nachrichten Begriffe wie "Laptop Trainer" oder "neue Generation von jungen Taktiktrainern" - sowohl im positiven wie im negativen Sinne. Zum Fußball Stand heute gehört für mich eine professionelle Ausrichtung in jedem Bereich, der das Team besser werden lässt. Deswegen verstehe ich diese Abgrenzung der "Trainer Typen" nicht. Es gibt heutzutage in einem professionellen Verein immer ein Team und der Trainer hat die Bürde und das Glück alles sportliche als letzte Instanz entscheiden zu dürfen. Die unterschiedlichen Bereiche (Athletik, Mentalität, soziale Betreuung, Motivation, Technik, Fans, Taktik, Marketing, Medizinische Betreuung, soziales Gefüge, Finanzen usw.) sind zwar nicht alle von der Wertigkeit gleichzusetzen - sie tragen aber ihren Teil dazu bei, dass eine Mannschaft eine bessere Leistung abliefern kann.
Taktik und die Analyse des eigenen als auch des gegnerischen Teams sind für mich bedeutend, um die eigene Spielstärke steigern zu können. Jedoch sind sie nur ein Faktor von vielen. Wie ich mir so etwas vorstelle, werde ich nachstehend mit Blick auf das Jena Spiel erläutern.
A Vorabanalyse des Gegners
Man beobachtet und analysiert eine Woche im Voraus die Besonderheiten des nächsten Gegners und übergibt das Wichtigste in Schrift- und/oder Bildform dem Trainerteam. Wichtige allgemeine Fragen könnten z.B. sein: Welches System spielt der Gegner? Wie ist das Pressingverhalten des Gegners?. Spezielle Fragen könnten lauten: Wie verhält sich der Gegner bei Standards? Welcher Spieler eröffnet am schlechtesten im Spielaufbau und könnte somit als Zielspieler des eigenen Pressings dienen?. Das Trainerteam muss dann entscheiden: Was ist wichtig? Was können wir in einer Woche mannschaftstaktisch und individuell umsetzen?.
B Analyse während des Spiels
Für Spieler, Trainer und Fans ist es nahezu unmöglich ein Spiel emotionslos zu verfolgen. Je größer die Emotionen, desto mehr verliert man den Blick für die Dinge auf der Sachebene. Darüber hinaus sieht man alle Spielaktivitäten nur einmal und das - bezogen auf Spieler und Trainer - aus keiner günstigen Perspektive. Jemand, der das Spiel als Aufnahme von oben sieht und dazu Vor- und Zurückspulen kann, ist besser aufgestellt und kann wiederum nützliche Hinweise liefern, die dem Team noch während des Spiels helfen können. Nachfolgend ein konkretes Beispiel:
Hansa und Jena spielten mit folgendem Grundsystemen (siehe Bild):
Hansa_Aufstellung.JPG
Jena_Aufstellung.JPG
Gegen eine Doppel 10 spielt es sich mit einem 6er schwierig. Da Jena mit zwei Stürmern und zwei offensiven Außenverteidigern (aus der 5er Kette) agierte, war es für die 4er Kette unmöglich im zentralen Mittelfeld auszuhelfen, da sie durch ihre Gegenspieler gebunden waren. Eine Doppel-6 in der Defensive war demnach in diesem Spiel alternativlos und zwingend notwendig. Auf dem Papier spielte Hansa mit Bülow und Nartey diese Doppel-6 (siehe Bild oben). Im Spiel selbst war dies jedoch leider nicht der Fall - Bülow war zu oft alleine, da Nartey bei gegnerischem Ballbesitz nicht konsequent die 6er Position neben ihm einnahm (Gründe?). Leider wurde dieser Umstand während des Spiels nicht korrigiert. Für Hansa hatte das schwerwiegende Folgen:
Beispiel #1:
Min 18:16 - langer Abschlag und Kopfballverlängerung auf Linksaußen, Bülow und Nartey stehen gut zur Doppel-10 des Gegners
Jena_Nartey1_01.JPG
Min 18:18 - die Stürmer sichern den Ball und ziehen in die Mitte, Bülow hilft, Nartey in guter Position zu seinem Gegenspieler
Jena_Nartey1_02.JPG
Min 18:20 - der Stürmer bleibt am Ball, Reinthaler und Bülow in guter Position, Nartey ist nicht eingerückt - sein Gegenspieler ist jetzt vor ihm und wird angespielt
Jena_Nartey1_03.JPG
Min 18:22 - freier Torschuss, Nartey kann nicht mehr eingreifen, Kolke hält
Jena_Nartey1_04.JPG
Beispiel #2:
Min 59:58 - langer Abschlag, Kopfballduell, Bülow in guter Position, Nartey in schlechter Position zu seinem Gegenspieler und nicht auf der 6
Jena_Nartey2_01.JPG
Min 60:00 - Ball wird in der Zentralen gesichert, Reinthaler tritt raus, Nartey fehlt auf der 6 und sein Gegenspieler ist zudem vor ihm, gegnerischer Außenverteidiger schaltet sich ein
Jena_Nartey2_02.JPG
Min 60:04 - gegnerischer Außenverteidiger bekommt den Ball, Neidhardt ist da, in der Mitte 4 gegen 3, Nartey fehlt
Jena_Nartey2_03.JPG
Min 60:06 - Rückpass auf den nachgelaufenen zweiten 10er (Narteys Gegenspieler), Nartey kann nicht eingreifen, Abschluss, Tor, 2:1 Jena
Jena_Nartey2_04.JPG
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